Siebenbürger-sächsische Lieder
Im 12. Jahrhundert wanderten viele Siedler aus der Region Rhein-Mosel-Luxemburg nach Rumänien aus. Jahrhundertelang pflegten sie dort ihre Muttersprache, die sich mehr und mehr verselbstständigte. Nach dem zweiten Weltkrieg und vor allem nach dem Mauerfall kamen viele dieser Siebenbürger Sachsen, die übrigens gar keine Sachsen sind, zurück nach Deutschland und bauten sich hier eine neue Existenz auf. So kam auch die damals einjährige Heide mit ihrer Familie hierher – nach Augsburg.
Das Projekt „Heimatlieder aus Deutschland“ lernte Heide über den Produzenten unserer 2. CD, den Augsburger Girisha Fernando, kennen. Die Spätaussiedlerin, die als Einjährige nach Deutschland kam, war sofort begeistert davon und nahm das zum Anlass, sich intensiv mit der Musik ihrer Vorfahren auseinanderzusetzen. Herausgekommen sind zwei anrührende Musikstücke die sie mit Geeta Abad (Violine), Mehmet Ali Yücel (Bratsche), Assia Chappot (Cello), Girisha Fernando (Gitarre) und Kay Fischer (Bassklarinette) eingespielt hat. „E klî wält Fijeltchen“ („Ein kleines Wildvögelein“) ist der wunderschönste Einstieg für die 2. CD Heimatlieder aus Deutschland – Berlin/Augsburg. Dabei geht es um einen kleinen Vogel, der nach Herzenslust trällert und für seinen wunderschönen Gesang keine Bezahlung möchte. Denn er ist frei und singt nur, wann und wie es ihm gefällt:
Text und freie Übersetzung “E kli vält Fijeltchen”
1. E klî wält Fijeltchen
Et sâs e klî wält fijeltchen
aw ėnem græne næsztchen
et sång de gânz wäinjternôcht
de stäm dæ moszt em kläinjen.
Säinj tâ mer mî, säinj tâ mer mî,
tâ klėnet, wäldet fijeltchen!
ėch wäl der schrėiwen af dėinje’ flijel
mät gielem gûld uċh græner sėkt.
Hâlt tâ dė gûlt, hâlt tâ dėinj sekt!
ėch wäl dir nėmi säinjen,
ėch bän e klî wält fijeltchen,
unt nėmeszt kâ mich zwäinjen.
Gånk tâ eruow äm dėfen duof.
der rėif wirt dėj ućh dräken.
“Dräkt mėch der reif, der rėiw äsz kâlt,
fræ San wirt mėj erkwäken.”
Ein kleines Waldvögelein
Es saß ein klein wild Vögelein
auf einem kleinen Ästchen;
es sang die ganze Winternacht, die Stimmte
die musste ihm klingen.
Sing du mir mehr, sing du mir mehr,
du kleines wildes Vögelein!
Ich will dir schreiben auf deine Flügel
mit gelben Gold und grüner Seide.
Behalt dein Gold, behalt deine Seide!
Ich will dir nie mehr Singen,
ich bin ein kleines wildes Vögelein
und niemand kann mich zwingen.
Ein bisschen Landeskunde
Wo liegt denn Siebenbürger Sachsen?
Nirgendwo. Das Land gibt es nicht. Die Siebenbürger Sachsen sind nicht einmal Sachsen. Doch der Reihe nach: Siebenbürgen ist das berüchtigte Transsilvanien. Berühmtester Einwohner ist vermutlich damals wie heute Graf Vlad III. Drăculea. Ein fieser Fürst der Walachei, der ein paar schaurige Vorlieben hatte, wie zum Beispiel das Pfählen seiner Feinde. Er war die Vorlage für Bram Stokers Gruselroman “Drakula”. Siebenbürgen ist ein schöner Landstrich mit dunklen Wäldern und heulenden Wölfen inmitten der Karpaten, im heutigen Zentralrumänien. Es gehörte bis nach dem ersten Weltkrieg zum Königreich Ungarn, seit 1918 zu Rumänien und damit seit 2007 auch zur EU.
Und wer sind die Siebenbürger Sachsen?
Zum Beispiel Peter Maffey. Sein Vater war einer. Und natürlich: Heide. Sie kam mit ihren Eltern als Spätaussiedlerin zurück nach Deutschland als sie grade ein Jahr alt war. Das mit den Sachsen geht vermutlich auf einen Übersetzungsfehler in einer ungarischen Amtsstube zurück, denn ursprünglich kamen die Siedler, die sich in Siebenbürgen niederließen, aus dem Dreieck Rhein-Mosel-Luxemburg. Sie kamen im 12. Jahrhundert auf Einladung des damaligen Königs im Rahmen eines frühen Gastarbeiterabkommens. Er wollte sich mit ihrer Hilfe gegen Mongolen und Tartaren verteidigen und brauchte gut ausgebildete, fähige Leute.
Sie sächseln nicht, sondern sprechen eine Reliktmundart
Die Siebenbürger Sachsen sächseln nicht. Sie sprechen einen rheinfränkisch-pfälzischen Dialekt, das ist eine sogenannte Reliktmundart, also eine Art Überbleibsel. Sie siedelten in schönstem Waldland (Erdély) und nannten dieses wegen ihrer sieben Hochburgen Hermannstadt, Mühlbach, Broos, Reußmarkt, Leschkirch, Schenk und Reps um in … Siebenbürgen! Dort lebten sie – zunächst in Kirchenburgen, also Kirchen mit angeschlossener Festungsanlage (Fliehkirche) fleißig, fröhlich, fromm und fruchtbar bis 1867 recht autonom. Dann wurde die österreichische Doppelmonarchie begründet. Als es damit vorbei war, stimmten die Siebenbürger Sachsen genau wie die Banater Schwaben für den Anschluss an Rumänien. Doch irgendwie lief es nicht mehr rund. Es wurde schwieriger, ihre Wurzeln zu pflegen. So wurde beispielsweise ihre Muttersprache als Pflichtschulfach immer mehr aus der Schule verdrängt. 1940 wurden die Siebenbürger Sachsen nur noch “Deutsche Volksgruppe in Rumänien” genannt. Entsprechend änderte sich ihr Status.
Zwei große Auswanderungswellen: nach 1945 und nach 1990
Nach dem zweiten Weltkrieg verschlimmerte sich die Situation und war für viele Siebenbürger Sachsen nicht mehr auszuhalten. Sie waren Diskriminierung und Enteignung ausgesetzt. Viele kehrten ihrer jahrhundertelangen Wahlheimat den Rücken und gingen zurück nach Deutschland, in die alte Heimat. 1990 migrierten nach dem Sturz Ceauşescus noch einmal 100.000 von ihnen nach Deutschland, Österreich, in die USA und nach Kanada. Es gab eine gewisse Panik, die neue Freizügigkeit schnell wieder zu verlieren, und viele fühlten sich daher in der Fremde besser aufgehoben. Jeder, der es irgendwie schaffte, wanderte aus. Man erzählte sich, dass nur Alte und Schwache, und Leute, die sich irgendjemandem verpflichtet fühlten wie Lehrer oder Pfarrer, die Stellung hielten.
Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung in Rumänien heute: unter einem Prozent
Heute ist die deutschsprachige Bevölkerung in Rumänien nur noch verschwindend klein – nicht mal ein Prozent der rumänischen Bevölkerung. Hauptsächlich sind es Siebenbürger Sachsen in den Karpaten und Banater Schwaben im Westen des Landes. Viel mehr von ihnen gab es bald außerhalb Siebenbürgens – in Deutschland um Nürnberg herum, um Heilbronn und Augsburg (wo Heide herkommt). Das eigentliche Zentrum ist allerdings im mittelfränkischen Dinkelsbühl, wo es jedes Jahr ein großes Heimatfest gibt. Die übrigen Siebenbürger Sachsen in Zentralrumänien sind übrigens die älteste noch existierende deutsche Siedlergruppe in Osteuropa.
Musik der Siebenbürger Sachsen
Musik ist Trumpf
Die Musik spielte im Leben der Siebenbürger Sachsen immer schon eine außerordentlich große Rolle. Zum Beispiel bekam im 16. Jahrhundert der Stadtorganist ein dreimal so hohes Gehalt wie ein Schulmeister. Bis ins 19. Jahrhundert erlebte der siebenbürgische Barockorgelbau seine Blütezeit. Große Erbauer waren unter anderen Martin Hammer (1690–1742), Georgius Wachsmann (1685–1760) und Johann Vest (1630–1694). Orgeln von ihnen und anderen Meistern gibt es heute immer noch in vielen Kirchen, vor allem auf dem Lande, zu sehen, wenn auch oft in ziemlich schlechtem Zustand.
Schon früh gab es gefeierte Popstars der siebenbürgischen Musik
Im 17. Jahrhundert war die Kirche der Siebenbürger Sachsen mehr oder weniger ein Konzertsaal, wo auch mehrstimmige Kompositionen aufgeführt wurden. Inspiriert vom italienischen Arienstil führte der Hermannstädter Kantor den Sologesang ein. Der Kantor war es auch, der die musikalische Erziehung übernahm. Die war besonders wichtig, weil man wollte, dass in den Kirchen nicht einfach so, sondern dass richtig schön gesungen wurde. Überall war Chorsingen ein großes Thema – auch in der Schule. Bald gab es Liedersammlungen und Schülerkapellen. Man begeisterte sich für bestimmte Musiker, wie für den Lautenspieler VALENTIN GREFF BAKFARK, und für “Turner”, die vom Kirchturm bliesen und bei allerlei Anlässen von Geburt bis Tod musizierten. Diese wurden schlecht bezahlt, bekamen aber Kost und Logis in den Städten. Aus den Turnerkapellen gingen bald schon Stadtkapellen hervor, die mit Promenadenmusik für Ambiente sorgten. Natürlich gab es aber für all das Gesetze, die regelten, wer wann und wie zu spielen hatte.
In jedem Haus beherrschte mindestens einer mindestens ein Instrument
Musikinstrumente dieser Zeit waren ZINKEN (italienisch Cornetto), Klarinetten, Posaunen, Schalmeien, Flöten, Geigen und Trompeten. Die Trompeter kündigten auch Feinde an, die sich der Kirchenburg, also der kirchlichen Festungsanlage, näherten. Neben den Stadtkapellen gab es Kirchenmusik und die Stadttheater, in denen das musikalische Leben vor allem stattfand. Aber das war längst nicht alles: in vornehmen Familien stand mindestens ein Clavichord, oft gab es auch Harfe und Hausorgel. Ende des 18. Jahrhunderts trat das Klavier seinen Siegeszug an und war auch in Siebenbürgen der letzte Schrei. Angeblich gab es in jedem Haus einen, der mindestens ein Instrument beherrschte.
Think big – Die Hermannstädter dachten groß und erreichten viel
Noch professioneller wurden die musikalischen Aktivitäten im 19. Jahrhundert, als Fachkräfte aus Deutschland, Österreich oder Böhmen angeheuert wurden, um Musikvereine zu leiten. Mit einer solchen Menge an versierten Musikern war natürlich auch auf den Bühnen einiges möglich. Chor, Stadtkapelle und Laiensymphonieorchester wagten sich bald an anspruchsvolle Oratorien, Opern und Operetten heran. Schon 1839 hatten die Hermannstädter einen Musikverein mit 119 ausübenden Mitgliedern und weiteren 376, die irgendwie auch mitmischten. Dazu gehörten ein Chor, ein Orchester und eine Musikschule für Jungs und Mädchen. 1860 folgte ein Männergesangsverein, neun Jahre später hatten die Frauen ihren eigenen Chor, 1878 gab es eine Philharmonische Gesellschaft, und jeder noch so kleine Ort hatte Musikvereine und musikalische Gesellschaften. So war es kein Wunder, dass 1899 das erste Sängerfest ausgerichtet wurde. In Heldsdorf, mit 14 Chören. Ein paar Jahre vorher hatte sich der Siebenbürgisch-Deutsche Sängerbund gegründet. Das waren zunächst neun Vereine, die sich zusammentaten.
Ausnahmetalent Carl (Karóly) Filtsch als Namensgeber für Musikwettbewerb
Das Publikum war musikalisch aufnahmefreudig und widmete sich mit Leidenschaft den Aufführungen. Den Vogel schoss dabei das musikalische Wunderkind CARL (KARÓLY) FILTSCH aus Mühlbach ab, ein Spiel- und Musikgefährte des späteren Kaisers Franz Joseph. Mit 3 Jahren lernte er Klavier, trat in ganz Europa auf, bekam mit 15 Tuberkulose, gegen die weder eine Kur in Siebenbürgen noch eine in Italien half, und so wurde er mit 16 Jahren nach beachtlicher Karriere und schlimmem Leiden in Venedig begraben. Die Hermanstädter würdigen ihren Sohn der Stadt mit einem jährlichen Komponierwettbewerb, der nach dem tragischen jungen Musiker benannt wurde.
Auch das Volkslied erlebte seinen Boom
Insgesamt ist festzuhalten, dass man in Siebenbürgen auf höchstem Niveau musizierte. Jeder Ort hatte seine “Adjuvanten” und einen Chor, der das Volkslied pflegte oder die Kirchenmusik. In vielen Schulen gab es eine Blaskapelle, die “Blasia”. Die Jugendbewegung “Wandervogel” widmete sich vor allem Volkslied und Volkstanz. So tingelten bis in die 1930er Jahre die besten Chöre durch die Lande, auch nach Deutschland, Österreich und in die USA, um siebenbürger-sächsisches Brauchtum bekannt zu machen.
Das althergebrachte Volksliedgut der Siebenbürger Sachsen, das man eher dem Minnegesang zuordnen kann, kommt laut dem Musikwissenschaftler Karl Teutsch (siehe Quellen, unten) aus dem Frühmittelhochdeutschen des nordwestdeutschen und flandrischen Sprachraums. Also aus der Heimat der ersten “Gastarbeiter” Siebenbürgens. Später kamen auch Volkslieder aus den mitteldeutschen und österreichischen Landschaften nach Siebenbürgen. Hier lebten all diese Lieder munter auf und konnten sich sogar mehr als in Deutschland etablieren. Die im Volk überlieferten Lieder wurden seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts aufgezeichnet und archiviert.
Deutschsprachige Lieder singen war nach 1945 höchst gefährlich
Nach dem verlorenen Krieg wurde es lebensgefährlich, deutsche Lieder zu singen. Gesang gab es deshalb nur noch in der Kirche. Die Talente wendeten sich der klassischen Musik zu, das deutsche Liedgut verpuffte mehr oder weniger. Mit der Schulreform 1948 kamen deutsche Lieder zwar zurück. Schulchöre waren aber angehalten, Hymnen auf die Kommunistische Partei zu singen und auf die sozialistische Gesellschaft – und rumänische Volkslieder. Viele resignierten und gingen in den Westen.
Quellen
Emigration der Siebenbürger Sachsen – Studien zu Ost-West-Wanderungen im 20. Jahrhundert; Georg Weber (Hg.), Münster 2002
Kulturleistungen der Siebenbürger Sachsen, Michael Kroner, Nürnberg 2000
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