Über den Umgang mit eingewanderter Folklore
Als David Bowie sich in den 1970er Jahren in Berlin aufhielt, da inspirierte ihn die musikalische Vielfalt der Stadt – davon zeugen die Einflüsse von arabischer und türkischer Folklore auf Stücken wie „Neuköln“, „The Secret Life of Arabia“ oder „Yassassin” (Türkisch für “langes Leben”). Während Bowie den diversen Sound der Einwanderungsgesellschaft hörte, haben die Lieder der Migranten in Deutschland selbst nur wenig Anerkennung und Bearbeitung erfahren.
Die Ausgangslage: Nicht nur Rebetiko und Fado
Nun ist das Interesse an Folklore in den letzten Jahren international nicht nur enorm angewachsen – es wird auch ständig differenzierter. Dabei geht es schon lange nicht mehr nur um Rebetiko oder Fado. Auf Blogs und Labels werden heute die vergessenen Schätze eines weltweiten Tonarchivs gehoben.
Die Idee: Schatzsuche in Deutschland
Daher war es höchste Zeit, die eingewanderte Folklore als Musik eines vielfältigen Deutschland zu entdecken. Das Singen von Liedern aus den Herkunftsregionen (weniger Nationen) war bei den so genannten Gastarbeitern in Deutschland ein wichtiges Element von Community-Leben. Der gemeinsame Gesang diente dazu, den durch die Migration erfahrenen Bruch in der Kontinuität von Kultur und Erinnerung zu kitten und sich neu zu verorten. Und im gesungenen „imaginären Heimatland“ sind die Nachkommen aufgewachsen. Dieser „Folk“, der durch die Arbeitsmigration eingewandert ist, stirbt auf der einen Seite aus und wird auf der anderen gerade neu entdeckt: Berlin ist heute ein Ort, wo junge Leute wieder in der typisch dalmatinischen Klapa singen, wo vietnamesische Singspiele stattfinden, oder man am Konservatorium etwas lernen kann über türkische volkstümliche Lieder.
Die Sammlung: Traditionelle Musik
Zunächst stand für uns die Sammlung im Vordergrund. Auswahlkriterium war: die jeweilige Musik musste aktuell in Berlin zu finden sein und aus einem Land stammen, mit dem die Bundesrepublik oder die DDR einen Anwerbevertrag hatten. Wir machten uns auf den Weg durch Chorverzeichnisse, Vereinslokale, Restaurants und „ethnische“ Kneipen, um Leute zu finden, die aktuell Folklore machen.
Die Studioaufnahmen: Eine Herausforderung
Aufgenommen wurden schließlich Stücke aus Italien, Griechenland, Portugal, Spanien, Kroatien, Serbien, der Türkei, Marokko, Südkorea, Polen, Mosambik, Kuba und Vietnam. Die jeweiligen Chöre und Bands sind zumeist selbst bereits Konservatoren beziehungsweise Personen, die ein folkloristisches Liedgut revitalisieren. Für alle Beteiligten war die Situation ein Erlebnis – vor allem, weil 120 Personen live aufgenommen wurden, von denen einige noch nie ein Musikstudio betreten hatten. Letztlich aber ging es für uns darum, etwas zu lernen: über die verschlungenen Pfade der Migration, über Vorstellungen von Heimat, über unbekannte Musiken und die mit ihnen transportierten Erfahrungen. Und auch ganz praktisch etwas über die korrekte Mikrophonabnahme bestimmter Instrumente und die Möglichkeiten der Produktion von unterschiedlichen Musiken.
Die Neubearbeitung: Elektronische Musik
Aber es gibt noch einen zweiten Teil der „Heimatlieder aus Deutschland“. Denn es ist auffällig, dass in der deutschen elektronischen Musik zwar viele Arten von Material verwendet wurden, die eingewanderte Folklore aber außen vor blieb. Daher haben wir die aufgenommenen Lieder zur Neubearbeitung an DJs übergeben, an so unterschiedliche Musiker wie Natalie Beridze, Mark Ernestus, Gudrun Gut, Murat Tepeli, Eric D. Clark, Thomas Mahmoud, Can Oral (Khan), Guido Möbius, Symbiz Sound, Yvonne Cornelius (Niobe), Ulrich Schnauss, Margaret Dygas und Matias Aguayo. Was dabei herauskam, ist eine sensationelle NEW GERMAN ETHNIC MUSIC, die als CD und auf Vinyl 2013 bei Karaoke Kalk erschien. Unser zweites Album, Heimatlieder aus Deutschland Vol. 2, wurde bearbeitet und remixt von Gudrun Gut und erschien im Oktober 2016 unter dem Titel VOGELMIXE.